Bücher

Gute Kinderbücher und -filme sind Verbündete

„Beim Lesen erfahre ich, was Menschen denken und fühlen“, sagt Kirsten Boie. Sie ist eine der großen Kinderbuchautorinnen unserer Zeit. Hier Auszüge aus ihrem Gespräch mit Inka Kiwit im KiKA-Podcast „Generation Alpha“.

Der Blick in die Zukunft

Ich wünsche mir für die Generation Alpha eine gerechtere Gesellschaft, bei uns vor allen Dingen eine bildungsgerechtere Gesellschaft. Daran hängt nämlich alles Weitere.

Warum Geschichten für Kinder Happy Ends brauchen

Wenn Sie für Kinder bis zum Ende des Grundschulalters schreiben, dann brauchen Sie meiner Überzeugung nach immer so etwas Ähnliches wie ein Happy End. Es gehen auch offene Enden. Aber mit Zuversicht. Ich wünsche mir, dass die Kinder in dem Alter erst mal die Überzeugung gewinnen, dieses Leben und die Welt sind was ziemlich Tolles. Nur wenn wir das hinkriegen, werden sie später alle Abweichungen von dieser Erfahrung überhaupt als Abweichung wahrnehmen können und kritisieren und sich vielleicht auch dagegen auflehnen. Wenn Sie davon ausgehen, alle Menschen leben glücklich und in Freude zusammen sowie in manchen Büchern, die pure Idylle erzählen, dann sind sie doch umso erschrockener, wenn sie erfahren, wie manche Kinder leben müssen. Das finde ich wichtig.

Geschichten für Jugendliche

Bei Jugendlichen, die anfangen, alles zu problematisieren und über die Dinge auch tiefer nachzudenken, dürfen nicht nur die Geschichten schon ernster und schwieriger sein, sondern auch die Enden der Bücher. Da erwarte ich nicht immer unbedingt ein Happy End. So ein kleines bisschen Zuversicht ist vielleicht ganz schön. Ich zitiere da immer gerne Benno Pludra, einen der ganz großen DDR-Kinderbuchautoren, der gesagt hat: „Am Ende muss Hoffnung sein.“

„Richtige“ Leser*innen – jetzt und in Zukunft

Untersuchungen zeigen, dass es um die 30 Prozent richtige Leser gibt. Also Kinder, die tatsächlich zum Vergnügen lesen. Das ist ein Prozentsatz, der sich interessanterweise in den letzten 50, 60 Jahren nicht geändert hat. Das bedenkt man manchmal so nicht. Für Kinder wird es aber natürlich sehr viel schwieriger, weil sie so viele andere Medien zur Verfügung haben, die alle ausnahmslos leichter zugänglich sind. Lesen ist zunächst mal, bis man‘s wirklich automatisiert und gut und schnell kann, eine anstrengende Tätigkeit. Und da muss man große Hürden überwinden. Ich befürchte, dass Kinder künftig eher weniger als mehr lesen werden. Das bedauere ich sehr.

Was beim Lesen passiert

Beim Lesen passieren Dinge, die beim Umgang mit anderen Medien so nicht passieren. Ich will die anderen Medien deshalb nicht abwerten. Ich gucke selbst sehr gerne gute Filme und Serien und nutze die digitalen Medien intensiv. Doch beim Lesen habe ich vor mir nichts als Papier, mit kleinen schwarzen Zeichen. Oder einen Reader mit kleinen schwarzen Zeichen. Wie kommt es, dass ich, wenn ich dieses Papier angucke, trotzdem lachen muss? Dass ich manchmal weinen muss. Dass ich manchmal nicht weitermachen kann und die nächsten Seiten nur überfliege, weil es mir zu schrecklich ist. Wie kommt das? Da passiert ja ganz viel in meinem Kopf.

Beim Lesen entwickeln wir immer innere Vorstellungen ...

... in quasi so einem Dialog mit dem Buch. Der Text weckt bei uns, ganz unbewusst, Gefühle, die wir mal hatten. Erinnerungen an Menschen, die wir gekannt haben. Erlebnisse, die wir hatten. Manchmal blitzt das ganz kurz auf, aber in der Regel empfinden wir das sozusagen als zur Geschichte gehörig. Deshalb ist derselbe Text auch für jeden Menschen ganz unterschiedlich. Also, was mir beim Wort „Vater“ einfällt, wird was anderes sein als was, was Ihnen einfällt oder was einem Kind einfällt, das täglich geschlagen worden ist. Unsere Assoziationen sind ganz unterschiedlich. In jedem Fall ist das Buch eigentlich immer genauso sehr das Buch des Lesers oder der Leserinnen, wie das des Autors oder der Autorin. Und das heißt: Es löst im Gehirn sehr viel mehr aus.

Warum Kinderbücher und Kinderfilme Verbündete sind

Gute Kinderfilme und Kinderbücher sind tatsächlich quasi Verbündete. Wir haben früher immer nur gesagt: Die Kinder gucken jetzt so viel Fernsehen, da lesen sie weniger. Wenn wir nur auf das Zeitbudget blicken, ist das sicher richtig. Aber es ist natürlich auch so, dass viele Kinder heute zuhause keine Geschichten mehr vorgelesen bekommen und so kein Gefühl entwickeln, wie sich die Handlung einer Geschichte aufbaut. In gut erzählten Geschichten kann ich am Anfang ja oft schon Vermutungen entwickeln, wie es weitergehen und wie es enden wird. Je mehr Geschichten ich kenne, desto mehr weiß ich darüber, desto stärker sind meine Vermutungen und desto stärker ist auch meine Spannung, weil ich natürlich erfahren will: Ist das wirklich so? Aber Kinder, die nie diese Erfahrung gemacht haben, die haben auch beim Lesen und auch beim Vorlesen nicht diese Erwartung. Weil die gar nicht wissen, dass sie diese Erwartung haben könnten. Sie entwickeln deshalb auch nicht diese besondere Form von Spannung. Das erlebe ich oft bei Lesungen in benachteiligten Stadtteilen. Dann sehe ich, wie die Kinder da sitzen, und ihre Blicke abwandern. Sie sind nicht mehr bei der Sache. Für sie ist es einfach nicht spannend. Gute Kinderfilme arbeiten mit denselben Mitteln wie Bücher. Auch hier wird am Anfang irgendwas angelegt, was sich im Handlungsverlauf entwickelt und dann zu einem Ende kommt. Auch hier kann es helfen, wenn Kinder bereits ein Gefühl für Handlungsdramaturgie haben.

„In Büchern und Geschichten kann alles ganz anders sein als in der Realität, sie erzählen nicht nur, was wir richtig finden.“

Wenn in Geschichten alte Rollenbilder erzählt werden

Bei Erwachsenen kann ich, wenn auch leider nicht immer, historisches Denken voraussetzen. Bei Kindern kann ich das nicht. Insofern ist es wichtig, mit Kindern über Klischees oder Rollenbilder, die sich gewandelt haben, zu sprechen. Auch über Begri!e, die wir heute als diskriminierend empfinden. Gleichzeitig geht es auch darum, dass Kinder ein Fiktionalitätsbewusstsein entwickeln: In Büchern und Geschichten kann alles ganz anders sein als in der Realität, sie erzählen nicht nur, was wir richtig finden. Beispiel Märchen: Wie gehen wir mit Hexen um oder mit bösen Stiefmüttern? Wollen wir Märchen, in denen ja auch äußerst unsoziale Sozialstrukturen erzählt werden, ganz aus unserem Repertoire streichen? Und dürfen in Gegenwartserzählungen Gruppen, die in der Realität diskriminiert werden, von anderen Figuren nicht mehr beleidigt und diskriminiert werden, darf Diskriminierung überhaupt noch dargestellt werden? Was doch bei Kindern ein Bewusstsein dafür scha!en kann, wie unfair all das ist – und damit im besten Fall den Wunsch weckt, die Realität positiv zu verändern? Hier prallen Positionen aufeinander, und es gibt noch vieles zu diskutieren, ohne die Gegenseite gleich moralisch abzuwerten und ihr schlimmste Absichten zu unterstellen.

Ob es Kinderbücher „für Jungs“ und „für Mädchen“ braucht

Natürlich finde ich Bücher in Pink und Dunkelblau, die „nur für Jungs“ oder „nur für Mädchen“ heißen – oder das zumindest signalisieren – problematisch, einfach weil sie Barrieren aufbauen, während doch jede Lektüre allen offenstehen sollte. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass Jungs gerade aus bildungsfernen Familien weniger lesen als Mädchen, auch weil sie Lesen als „Weibersache“ empfinden, und dass es daher helfen kann, ihnen Bücher anzubieten, die sie nicht als „unter ihrer Würde“ verstehen. Dies in der Hoffnung, dass sie dann allmählich auch zu anderen Büchern finden und sich ihnen so schließlich die gesamte Literatur erschließt. Darum finde ich es nicht so einfach, hier nur mit einem klaren Ja oder Nein zu antworten.

Kirsten Boie ist Kinderbuchautorin und Literaturwissenschaftlerin und hat bereits über 100 Bücher in mehreren Sprachen verö!entlicht. Zu ihren bekanntesten Werken gehören „Wir Kinder aus dem Möwenweg“ und „Der kleine Ritter Trenk“.